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EU-Rahmenabkommen: Es geht um den Marktzugang, und nicht um eine feindliche Übernahme

22. Januar 2019

Liest man einzelne Kommentare von rechts- und linksaussen-Parteien zum Rahmenabkommen, dann könnte man das Gefühl bekommen, die friedliche, demokratische und souveräne Schweiz stehe kurz vor einer feindlichen Übernahme durch eine machtbesessene, undemokratische und unsolidarische EU. Dabei geht es beim Rahmenabkommen um nichts anderes als um die institutionelle Regelung des Zugangs der Schweiz zum EU-Binnenmarkt, um die Weiterentwicklung des bilateralen Wegs, um einen Vertrag mit einem Staatenbund, mit welchem wir unsere liberalen, rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätze teilen. Bei der bisweilen aufgeladenen Rhetorik geht zudem allzu oft vergessen, dass sich das Rahmenabkommen nicht auf die gesamte Volkswirtschaft und schon gar nicht auf die gesamte Politik, sondern auf den eng definierten Kreis von fünf bisherigen und allfälligen zukünftigen Marktzugangsabkommen zwischen der Schweiz und der EU bezieht. Die Weiterentwicklung dieser Verträge ist im ureigenen Interesse der Schweiz. Ihr Sinn und Zweck besteht darin, der Schweiz in ausgewählten Bereichen einen diskriminierungsfreien Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu gewähren, obwohl sie nicht Mitglied der EU oder des EWR ist. Der Marktzugang sichert Arbeitsplätze und erhöht den wirtschaftlichen Wohlstand der Schweiz. Klar profitiert auch die EU von einem um die Schweiz erweiterten Binnenmarkt. Die EU würde es aber wahrscheinlich vorziehen, wenn die Schweiz vollständig beitreten würde, was die Zusammenarbeit stark vereinfachen würde. Bei den Bilateralen ist es somit nicht die EU, die etwas von der Schweiz will, sondern die Schweiz ist Bittsteller und will etwas von der EU.

Die Teilnahme am EU-Binnenmarkt erfordert zwangsläufig die Übernahme der entsprechenden Regeln. Mit dem Rahmenabkommen will die EU sicher stellen, dass die Weiterentwicklung des Binnenmarktes auch in der Schweiz erfolgt. Die Schweiz ihrerseits profitiert neben dem Marktzugang von einem institutionalisierten Prozess, welcher den Besonderheiten des Föderalismus und der direkten Demokratie Rechnung trägt und die Rechtssicherheit erhöht. Es ist nachvollziehbar, wenn sich die EU dafür einsetzt, dass für die Schweiz im Binnenmarkt die gleichen Rechte und Pflichten gelten wie für die EU-Staaten selbst. Es ist selbstverständlich, dass es in einem gemeinsamen Markt fairerweise nur gemeinsame, für alle gleichermassen gültige Regeln geben kann («level playing field»). Abweichungen zu Gunsten eines Landes schaffen unweigerlich Wettbewerbsvorteile und werden von den anderen Staaten - zu Recht - als Rosinenpicken ausgelegt. Es zeugt von einem schwer verständlichen Realitätsverlust, oder zumindest von einem grossen Missverständnis, wenn Gewerkschaften, Verbände und Parteien allen Ernstes verlangen, dass die EU ausgerechnet dem reichen, hochentwickelten, wettbewerbsfähigen Nicht-Mitglied Schweiz im Binnenmarkt grosszügige Sonderregeln zugestehen soll. Es dürfte wohl in der EU immer weniger Verständnis dafür vorhanden sein, dass die Schweiz zwar am Binnenmarkt teilhaben und von seinem wirtschaftlichen Nutzen profitieren will, die Regeln aber je nach politischer Grosswetterlage nach eigenem Gutdünken umsetzt und auslegt.

Nun, die Schweiz hat den Nachteil, dass sie bei der Weiterentwicklung des Binnenmarktrechts nicht mitentscheiden kann. Das entspricht aber ihrem Grundsatzentscheid, zwar nicht Mitglied der EU sein zu wollen, aber dennoch am Binnenmarkt teilzunehmen. Das hat sicherlich Vorteile, insbesondere hinsichtlich des Föderalismus und der direkten Demokratie, hat aber auch seinen Preis. Das vorliegende Rahmenabkommen bietet hier aber insofern einen Gewinn für die Schweiz, weil sie bei der Weiterentwicklung der massgebenden Binnenmarktregeln konsultativ mitwirken kann. Zudem ist die Übernahme und Auslegung des Binnenmarktrechts in einem für die Schweiz massgeschneiderten Schiedsgerichtsverfahren geregelt. Dass die Entscheide des Schiedsgerichtes in binnenmarktrelevanten Fragen nicht im Widerspruch zur EU-Rechtsprechung ausfallen dürfen entspricht der Logik eines gemeinsamen Markts. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass im gleichen Markt für die beteiligten Länder plötzlich unterschiedliche Regeln gelten würden, was – wie oben eingehend erläutert – weder sinnvoll noch tolerierbar wäre.

Dennoch ist es der Schweiz gelungen, im Rahmenvertrag die flankierenden Massnahmen (FLAM) zur Personenfreizügigkeit zu verankern. Die vereinbarten Massnahmen gehen zwar weniger weit als die geltenden FLAM. Diese befinden sich heute jedoch in einzelnen Punkten, objektiv betrachtet, effektiv an der Grenze der Verhältnismässigkeit, z.B. die generelle Kautionspflicht und die vor dem Hintergrund der heutigen technischen Möglichkeiten sehr lange Anmeldefrist von acht Tagen. Ausserdem darf nicht vergessen werden, dass die EU-Entsenderichtlinie ebenfalls vom Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» ausgeht und laufend weiterentwickelt wird. Die lautstarke Behauptung der Gewerkschaften, durch den Rahmenvertrag werde der Lohnschutz abgeschafft, ist unbegründet. Hinzu kommt, dass nur ein kleiner Teil der Beschäftigten von den FLAM betroffen sind. Die Wirksamkeit des Lohnschutzes könnte zudem mit deutlich höheren Bussen sichergestellt werden.

Das Rahmenabkommen bringt zudem Vorteile für die Schweizer Konsument/innen und Steuerzahler/innen. So ist die Einschränkung von staatlichen Beihilfen aus wettbewerbsrechtlicher Sicht ein ganz klarer Gewinn, z. B. wenn es dereinst um ein Stromabkommen oder ein Finanzdienstleistungsabkommen geht. Des Weiteren nimmt das Abkommen explizit Bezug und Rücksicht auf unsere direktdemokratischen Institutionen und die damit verbundenen Entscheidungsprozesse. Und in Bezug auf die Unionsbürgerrichtlinie und die Koordination der Sozialversicherungen, welche nicht Teil des Abkommens sind, bietet sich gegebenenfalls eine gute Gelegenheit, den neuen Übernahme- und Streitbeilegungsmechanismus anzuwenden.

Die Schweiz ist jederzeit frei, sich gegen die Teilnahme am Binnenmarkt zu entscheiden und die bilateralen Verträge zu kündigen. Dann müsste sie aber auch die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Konsequenzen tragen. Dass das Abseitsstehen ausserhalb von EU und Euro sowie die heutige Starrheit der bilateralen Verträge in einer globalisierten Welt zunehmend Rechtsunsicherheit und wirtschaftliche Konsequenzen haben, ist nicht von der Hand zu weisen. So ist die Arbeitslosenquote in der Schweiz, wenn man sie mit der international vergleichbaren Methode der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) misst, trotz Hochkonjunktur höher als zum Beispiel in Deutschland oder den Niederlanden; dies obwohl sich die Schweiz damit rühmt, über ein sehr gutes Bildungssystem, einen vergleichsweise flexiblen Arbeitsmarkt und eine tiefe Steuerbelastung zu verfügen.

Es ist mir bewusst, dass auch die EU in erster Linie ihre Interessen vertritt, und es für den Bundesrat eine Pflicht darstellt, sich in erster Linie für die Interessen der Schweiz einzusetzen. Aussenpolitik ist grundsätzlich Interessenpolitik. Dabei dürfen aber Realitätssinn und gesundes Augenmass nicht verloren gehen. Insbesondere muss sich die Schweiz im Klaren darüber sein, dass kein Land, und insbesondere kein kleines Land, in einer globalisierten und immer stärker vernetzten Welt eine unbeschränkte Souveränität ausüben kann und machen kann was es will. Die Schweiz ist darauf angewiesen, dass sie innerhalb globaler Regeln ihr Wirtschaft- und Gesellschaftsmodell bewahren und weiterentwickeln kann. In diesem Sinne ist das institutionelle Rahmenabkommen der Garant für den bilateralen Weg, ohne den sich die Schweiz ziemlich bald in einer wirtschaftlich, gesellschaftlich und sozial sehr ungemütlichen Situation wiederfinden könnte.