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Mit Vertrauen in Demokratie, Föderalismus und liberaler Gesellschaft in die Zukunft!

01. August 2015

Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Schweiz in den letzten Jahren wieder einen stetigen Wachstumspfad eingeschlagen. Dank der Schuldenbremse konnten im Staatshaushalt hohe Defizite vermieden werden. Zwar wird unsere Volkswirtschaft in diesem Jahr durch die Frankenstärke eine Dämpfung erfahren. Bereits im nächsten Jahr können wir jedoch wieder von einem höheren Wachstum ausgehen. Angesichts dieses Erfolgs erstaunt es nicht, dass die Schweiz für Investoren und Fachkräfte nach wie vor einer der attraktivsten Standorte Europas, ja der Welt darstellt. Andererseits ist kaum zu übersehen, dass die Welt in den letzten Jahren unsicherer geworden ist.

Die Ukraine-Krise hat uns eindrücklich vor Augen geführt, dass sich Russland nicht in die europäische Zusammenarbeits- und Sicherheitsarchitektur einbinden lässt und sich auch nicht davor scheut, seine Interessen mit Waffengewalt durchzusetzen. Ernüchterung herrscht auch im Nahen Osten und in Nordafrika, wo sich der arabische Frühling leider als Traum erwiesen hat. Die Hoffnungen wurden durch Bürgerkriege, gescheiterte Staaten und den islamischen Terrorismus zerstört. Nicht zuletzt deshalb sind seit dem zweiten Weltkrieg noch nie so viele Menschen auf der Flucht wie heute. Des Weiteren steigen die Risiken von Cyber-Angriffen, z.B. auf Regierungsstellen oder die kritische Infrastruktur. Hinzu kommt als Folge der Klimaerwärmung eine Zunahme der Naturgefahren, die in unserer technisch hoch entwickelten und mobilen Gesellschaft besonders gravierende Schäden anrichten können.

Aber auch aus wirtschaftlicher Sicht bestehen mittel- bis langfristig Risiken. Bereits in einigen Jahren können die in Pension gehenden Arbeitskräfte der Baby-Boomer-Generation nicht mehr durch einheimische Nachwuchskräfte gedeckt werden. Zwar können fehlende Fachkräfte teilweise durch eine höhere Produktivität und eine bessere Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials kompensiert werden. Die Zahlen sprechen jedoch eine deutliche Sprache: ohne eine genügend hohe Zuwanderung und Beschäftigung von Grenzgängern wird unsere Wirtschaft in den kommenden Jahrzehnten kaum noch wachsen. Tausende von Arbeitsplätzen müssten ins Ausland ausgelagert werden, alleine deshalb, weil in der Schweiz nicht mehr genügend Fachkräfte vorhanden sind, um die Produktion aufrecht zu erhalten. Die Anzahl Erwerbstätige würde sinken, die Anzahl der Rentnerinnen und Rentner hingegen weiter steigen. Dies hätte fatale Folgen für die Sozialwerke und die öffentlichen Finanzen. Steuererhöhungen oder höhere Schulden wären unvermeidlich. Es liegt deshalb in unserem Interesse, dass die Wirtschaft über genügend qualifizierte Arbeitskräfte verfügt.

Und die Schweiz steht mit dieser Entwicklung nicht etwa alleine da. Praktisch sämtliche Staaten Europas stehen hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung vor denselben oder noch viel grösseren Herausforderungen als die Schweiz. Vor diesem Hintergrund müssten die alternden Gesellschaften Europas die Flüchtlinge aus den Krisengebieten willkommen heissen und sie möglichst schnell und gut in die Arbeitswelt und die Gesellschaft integrieren. Andernfalls sind die stetig steigenden Ausgaben und für das Alter und die Gesundheit nicht finanzierbar.

Das sind die Fakten. Emotional ist die Wahrnehmung jedoch eine ganz andere. Zuwanderung wird von grossen Teilen der Bevölkerung und der Politik nicht als Chance, sondern als Bedrohung und Gefahr wahrgenommen. Bei vielen Menschen herrscht grosse Skepsis und Misstrauen gegenüber der Personenfreizügigkeit und der Asylpolitik, wie es sich eindrücklich auch in der Annahme der Masseinwanderungsinitiative zeigte. Viele machen sich Sorgen um das soziale Gefüge, den Arbeitsplatz, das kulturelle Erbe, die Umwelt und die Natur. Als ob der technische Fortschritt in den letzten Jahrzehnten nicht schon genug Veränderungen mit sich gebracht hätte, wird die Anpassungsfähigkeit unserer Gesellschaft durch die Personenfreizügigkeit und die hohe Anzahl von Flüchtlingen zusätzlich herausgefordert.

Es überrascht leider nicht, dass rechtspopulistische und nationalkonservative Parteien die damit verbundenen Sorgen und Ängste in der Bevölkerung gnadenlos und teilweise unter grober Missachtung und Verdrehung der Fakten ausnützen und sie dadurch noch verstärken. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns vor diesen Sorgen und Ängsten verschliessen sollen. Im Gegenteil, wir müssen sie ernst nehmen, ihnen aber mit zukunftstauglichen, sachlichen und umsetzbaren Lösungen und Konzepten begegnen. Dazu gehören eine schnelle und gute Integration, flankierende Massnahmen auf dem Arbeitsmarkt, eine transparente Information und Begegnungsmöglichkeiten. Denn die Erfahrungen aus der Vergangenheit und in verschiedenen Staaten zeigen, dass sich die Migration von Personen, die an Leib und Leben bedroht sind, nicht steuern lässt, und dass die Bevölkerung bereit ist, Schutzbedürftige auch aufzunehmen. Die derzeit hohe Anerkennungsquote von Asylsuchenden weist darauf hin, dass die meisten Flüchtlinge auf unseren Schutz angewiesen sind.

Ich bin überzeugt, dass die Zuwanderung und der Schutz der Flüchtlinge letztendlich eine Bereicherung für die Schweiz darstellt. Denn die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft darf nicht unterschätzt werden. Auch dazu gibt es in verschiedenen Staaten zahlreiche Beispiele. Das klassische und bekannteste Beispiel ist wohl die USA, das Einwanderungsland schlechthin. Aber auch andere Staaten und insbesondere die Schweiz mit ihrer humanitären Tradition beweisen seit Jahrzehnten ihre ausserordentlich hohe Fähigkeit, aus verschiedenen Kulturen eingewanderte Menschen in die Gesellschaft zu integrieren. Sie übernehmen in ihrer grossen Mehrzahl nach einigen Jahren, und vor allem ab der zweiten und dritten Generation, gerne und mit Überzeugung unsere Sprache, unsere Kultur und unsere Gewohnheiten. Sie schätzen und respektieren die liberale, demokratische Gesellschaft und unsere in der Bundesverfassung verankerten Grundrechte. Sie nutzen Chancen und Möglichkeiten, die sich in unserer erfolgreichen, von kleinen und mittleren Unternehmen geprägten Wirtschaft und durch unser qualitativ hochstehendes Bildungssystem ergeben, und tragen so zum Wohlstand bei.

Es ist die Stärke unserer Institutionen, die unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft und unserer Kultur eine hohe Stabilität gibt, auf die wir auch in unsicheren Zeiten und bei grossen Herausforderungen zählen können. Es sind dies die Demokratie, der Föderalismus und der liberale Rechtsstaat. Es sind Institutionen, denen wir – gerade auch wenn es um Fragen der Migration geht – vertrauen sollten. Und gerade deshalb sollten wir alles daran setzen, dass Flüchtlinge, die unseren Schutz benötigen, so schnell wie möglich in unsere Gesellschaft und Wirtschaft integriert werden. Das ist zugegebenermassen nicht einfach und erfordert ein hohes Mass an Arbeit, finanzieller Ressourcen, Geduld und Toleranz. Aber letztendlich werden wir alle davon profitieren.

Auch im Hinblick auf die Umweltbelastung stehen Konzepte und Lösung für eine wachsende Bevölkerung und Wirtschaft seit langem bereit. Durch den Schutz des Kulturlandes, Kostenwahrheit beim Treibstoffverbrauch, verdichtetes Bauen und Umsteigen aufs Velo können Verkehrsprobleme entschärft und die Zersiedelung gestoppt werden. Mehr Energieeffizienz und ein höherer Anteil an erneuerbarer Energie schont das Klima und steigert die Lebensqualität

Gefahr droht uns jedoch von jenen Kreisen, welche unsere Institutionen – oft aus reiner Wahlkampftaktik - mit populistischen Forderungen in Frage stellen. Wenn Volksinitiativen lanciert werden, die zentralen Grundrechten unserer Bundesverfassung widersprechen, sinkt die Glaubwürdigkeit der direkten Demokratie und des liberalen Rechtsstaates. Wenn das Parlament, der Bundesrat und die Gerichte mit Polemik angegriffen und verunglimpft werden, schwächt dies unsere demokratischen Institutionen. Wenn im Rahmen der Diskussionen über den Finanzausgleich mit unsachlichen Vorwürfen und Argumenten gepoltert und gedroht wird, werden der Föderalismus und der nationale Zusammenhalt gefährdet. Und wenn Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung nach wie vor diskriminiert werden, sind wesentliche Grundsätze eines liberalen Rechtsstaates verletzt.

„Wir müssen Sorge tragen zu unserer Schweiz“ sagte mir kürzlich ein Freund auf einer gemeinsamen Wanderung in den Bergen. Ein Wunsch, eine Forderung, die wir wohl alle unterstützen können. Es ist aber nicht erstaunlich, dass sich für jeden von uns etwas ganz anderes hinter diesem Satz verbirgt. Für mich bedeutet er, dass wir unsere bewährten Institutionen der Demokratie, des Föderalismus und des liberalen Rechtsstaates aufrechterhalten, schützen und ihnen vertrauen müssen. Er bedeutet aber auch, dass wir sorgsam mit unseren natürlichen, kulturellen und finanziellen Ressourcen umgehen müssen, damit wir unseren Nachkommen eine intakte Umwelt, eine tolerante Gesellschaft und eine starke Wirtschaft hinterlassen können. Wenn uns das gelingt, wird die Schweiz auch in den kommenden Jahrzehnten ein erfolgreiches und schönes Land bleiben, in dem viele Menschen gerne gemeinsam leben wollen, leben dürfen und leben können.