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Ist das Regelwerk der Schuldenbremse noch zeitgemäss? Gedanken zum 20-Jährigen Jubiläum.

05. September 2023

Die Schuldenbremse des Bundes ist im Grunde genommen ein finanzpolitisch sehr einfaches Instrument, welches dafür sorgt, dass sich Einnahmen und Ausgaben langfristig die Waage halten. Über den Konjunkturfaktor wird das Ausgabenwachstum des Bundes verstetigt und an den Wachstumstrend des Bruttoinlandprodukts (BIP) und somit der Einnahmen gekoppelt. Die Auswirkungen von kurzfristigen, konjunkturbedingten Ertragsschwankungen werden ausgeglichen. Gleichzeitig besteht mit einer Ausnahmeregel genügend Flexibilität, um bei ausserordentlichen Ereignissen wie der Corona-Pandemie oder dem Ukraine-Krieg zusätzliche, ausserordentliche Ausgaben zu beschliessen. Es erstaunt deshalb nicht, dass die Schuldenbremse des Bundes auf grosse Anerkennung stösst. Doch der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Denn bei einer genaueren Betrachtung des Regelwerkes zeigen sich Unvollkommenheiten, die mit der Zeit die Glaubwürdigkeit und Stabilität des Instruments beeinträchtigen könnten.

Zum Einen ist die Ausgestaltung des Schuldenbremse ein buchhalterisches Flickwerk. Die zentrale Regel, wonach über einen Konjunkturzyklus hinweg die Ausgaben und Einnahmen, und nicht etwa der Aufwand und der Ertrag, ausgeglichen sein müssen, stammt aus einer Zeit, in welcher die Bundesfinanzen quasi noch mit einer «Milchbüechlirechnung» gesteuert wurden. Zwar lehnt sich die Rechnungslegung seit der Einführung des Neuen Rechnungsmodells (NRM) im Jahr 2007 an IPSAS (International Public Sector Accounting Standards) und somit an eine kaufmännische Buchhaltung an. Für die Schuldenbremse wurde jedoch bis vor kurzem neben der Bilanz und der Erfolgsrechnung extra eine Art Geldflussrechnung, die Finanzierungsrechnung, weitergeführt. Somit standen für die politische Steuerung trotz grundsätzlich moderner Rechnungslegung weiterhin die geldmässigen Transaktionen (Einnahmen und Ausgaben) im Zentrum, und nicht etwa der Wertverzehr und -zuwachs (Aufwand und Ertrag). Ausserdem fristen die Bilanz und das Eigenkapital weiterhin ein Schattendasein.

Im Jahr 2017 überwies die Bundesversammlung sodann eine Motion (16.4018) von Ständerat Hegglin (ZG), die den Bundesrat beauftragte, «die Rechnungslegung so anzupassen, dass ein Bild des Finanzhaushalts erscheint, welches möglichst weitgehend der tatsächlichen Vermögens-, Finanz- und Ertragslage entspricht.» Zudem sei zu prüfen, die Haushaltsteuerung auf die Erfolgsrechnung abzustimmen. Der Bundesrat, aber auch das Parlament selbst, setzten die Motion jedoch nur halbherzig um. Zwar wurde mit der Revision des Finanzhaushaltsgesetz im Jahr 2019 die Finanzierungsrechnung abgeschafft. Bei den laufenden Transaktionen sind heute Aufwand und Ertrag der Erfolgsrechnung relevant für die Schuldenbremse. Bei den Investitionen hingegen fliessen weiterhin die Ausgaben zum Zeitpunkt des Kaufs in die Schuldenbremse ein, und nicht etwa die jährlichen Abschreibungen. Dies hat zur Folge, dass Investitionsausgaben weiterhin zu 100 Prozent mit laufenden Erträgen, d.h. selbst finanziert werden müssen. Dem Bund ist es nach wie vor gesetzlich untersagt, Investitionen mit Fremdkapital zu finanzieren. Das wäre etwa das Gleiche, wie wenn ein Bauherr für seine Immobilie keinen Hypothekarkredit aufnehmen dürfte.

Dass diese unsinnige Regel nicht einfach nur buchhalterische Auswirkungen hat, sondern durchaus von erheblicher finanzpolitischer Bedeutung sein kann, zeigt die Umsetzung der Forderung des Parlaments, die Armeeausgaben bis im Jahr 2030 auf 1 Prozent des BIP zu erhöhen. Sie führte, zusammen mit anderen Mehrausgaben, zu einem nicht mit der Schuldenbremse konformen Finanzplan 2024 bis 2026, d.h. zu strukturellen Defiziten von über 3 Milliarden. Bei den Mehrausgaben für die Armee handelt es sich hauptsächlich um Investitionen in neue Geräte. Sie müssen gemäss Schuldenbremse vollständig mit Eigenkapital finanziert werden. Würden in der Schuldenbremse nicht die Investitionsausgaben, sondern die Abschreibungen berücksichtigt, wäre der Spardruck im Budget 2024 und insbesondere in den Folgejahren deutlich kleiner.

Neben den betriebswirtschaftlichen Unzulänglichkeiten vernachlässigt die Schuldenbremse aber auch zentrale volkswirtschaftliche Grundlagen. Zwar bewirkt die bereits eingangs erwähnte Glättung der Ausgaben mit dem Konjunkturfaktor, dass bei schwachem Wirtschaftswachstum Defizite budgetiert werden können und in einem Aufschwung Überschüsse veranlagt werden müssen, was durchaus im Sinne einer antizyklischen Fiskalpolitik ist. Faktisch wurden jedoch über Jahre hinweg fast nur hohe strukturelle Überschüsse ausgewiesen, die in den Schuldenabbau und somit in die Kapitalmärkte flossen. Der Bund hat somit auf Kosten der Bevölkerung zu viel Eingenommen oder zu wenig ausgegeben.

Ein weiterer Schwachpunkt ergibt sich aus der Regel, dass die Ausgaben die Einnahmen über einen Konjunkturzyklus hinweg nicht übersteigen dürfen. Was für einen privaten Haushalt durchaus Sinn macht, ist für einen Staatshaushalt in einer wachsenden Volkswirtschaft zu einschränkend. Die Regel führt dazu, dass der nominelle Schuldenbetrag langfristig konstant bleibt. In einer wachsenden Volkswirtschaft bedeutet dies, dass die Bruttoschulden im Verhältnis zum BIP, das heisst die Schuldenquote, laufend sinken. So sank gemäss Finanzstatistik die Schuldenquote des Bundes von 25 Prozent im Jahr 2002 auf 14,2 Prozent im Jahr 2022. Ein derart starker Schuldenabbau mag zwar das öffentliche Image von Finanzministerinnen und Finanzministern aufpolieren. Aus finanzwissenschaftlicher Sicht ist er aber von geringem Nutzen. Eine Staatsschuld ist tragfähig, solange die Schuldenquote stabil bleibt, unabhängig von ihrer nominellen Höhe. Ausserdem kann wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden, dass Staatsschulden generell negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand einer Volkswirtschaft hätten. Es besteht deshalb keine Notwendigkeit für die Schweiz, deren Gesamtstaat (Bund, Kantone, Gemeinden und Sozialversicherungen) mit 26,5 Prozent im Jahr 2022 eine der tiefsten Schuldenquoten in der westlichen Welt aufweist, die Schuldenquote noch weiter zu senken. Diese Einschätzung ist umso bedeutungsvoller, da aufgrund der Klima- und Biodiversitätskrise und des Kriegs in der Ukraine in den kommenden Jahren ein hoher Investitionsbedarf besteht.

Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, weshalb die Regeln der Schuldenbremse nicht schon längst angepasst wurden. Entsprechende Anträge des Verfassers lagen schliesslich bei der letzten Revision des Finanzhaushaltsgesetzes vor (19.071). Aber die Ausgestaltung der Schuldenbremse ist für die Mehrheit unter der Bundeshauskuppel und im Bernerhof, dem Sitz des Finanzdepartements, ein Heiligtum. Akribisch und mit immer neuen Argumenten werden deshalb Mythen gepflegt. Darunter fällt zum Beispiel die regelmässige Warnung, die Corona-Schulden müssten unbedingt wieder abgebaut werden, damit die Schweiz für eine zukünftige Krise gewappnet sei. Diese Aussage ist vor dem Hintergrund der ausgesprochen tiefen Schuldenquote der Schweiz unglaubwürdig. Die Schweiz gehört zu den wirtschaftlich stärksten Volkswirtschaften der Welt. Die Befürchtung, dass sie ohne Abbau der Corona-Schulden in einer nächsten Krise keine finanziellen Mittel mehr auf den Kapitalmärkten beschaffen könnte, ist deshalb unbegründet.

Ebenfalls unhaltbar ist die Behauptung, dass mit den Staatschulden zukünftigen Generationen Lasten aufgebürdet würden, da diese die Schulden dereinst zurückzahlen müssten. Diese Aussage ignoriert, dass Staatsschulden in den seltensten Fällen effektiv zurückbezahlt, sondern überwälzt und langfristig quasi mit dem Wachstum abgebaut werden. Wie bereits erwähnt sinkt in einer wachsenden Volkswirtschaft bei einem konstanten Schuldenniveau die Schuldenquote kontinuierlich. Ausserdem stehen den Staatsschulden Aktiven wie die öffentliche Infrastruktur gegenüber, von denen die Bevölkerung und die Unternehmen jahrelang profitieren. Es ist deshalb durchaus korrekt, dass kommende Generationen sich via die Abschreibungen und Zinsen an den Investitionskosten beteiligen. Hinzu kommt, dass Schulden und Zinszahlungen des Staates gleichzeitig Vermögen und Erträge der Privatpersonen sind, z.B. in der Form von Vorsorgekapital, Sparguthaben und Wertschriftendepots, die verzinst werden. Staatsschulden, die wie in der Schweiz vor allem gegenüber Personen im Inland geschuldet sind, sind auch in dieser Hinsicht volkswirtschaftlich unbedenklich.

Was ist zu tun? Trotz dieser Schwachpunkte sollte das Kind nicht mit dem Bad ausgeschüttet werden. Die Schuldenbremse ist grundsätzlich ein zweckmässiges Instrument, weshalb keinesfalls auf sie verzichtet werden sollte. Sie braucht jedoch Anpassungen, damit sie ihre Glaubwürdigkeit und Akzeptanz nicht verliert. Das bedeutet zum Einen, dass sie konsequent auf die Bilanz und die Erfolgsrechnung ausgerichtet sein sollte. Zielgrösse soll nicht ein ausgeglichener Saldo von geldmässigen Einnahmen und Ausgaben sein, sondern eine ausgeglichene Erfolgsrechnung. Zudem sollen Investitionen kreditfinanziert werden können, so lange die Schuldenquote stabil bleibt. Diese Anpassungen würden einer wachsenden Volkswirtschaft, welche mit der Bewältigung der Klima- und Biodiversitätskrise, der demografischen Entwicklung sowie des Ukraine-Kriegs vor grossen Herausforderungen steht, deutlich besser gerecht werden als das geltende Regelwerk. Gleichwohl ist die langfristige Tragbarkeit der Staatsfinanzen sichergestellt.

Es ist in einer liberalen Volkswirtschaft wichtig, dass mit den staatlichen Finanzen sorgsam umgegangen wird. Aber Mythen und althergebrachte Glaubensbekenntnisse haben in einem liberalen Staat keinen Platz.