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Die Schweiz gehört zu Europa, ohne Wenn und Aber!

07. Mai 2023

Wenn ich über die Europapolitik nachdenke, dann stelle ich mir immer zuerst eine Landkarte vor. Schliessen Sie die Augen, und stellen Sie sich Europa, die Europäische Union und die Schweiz auf dieser Landkarte vor. Schweifen Sie von der Nordgrenze Finnlands bis an die Südspitze Spaniens, von der Schwarzmeerküste Rumäniens bis an die Westküste Irland. Und sie werden leicht feststellen: die Schweiz liegt mitten in der EU. Und tatsächlich: der geografische Mittelpunt der EU liegt in der Nähe von Würzburg in Bayern, also nicht weit von der Schweizer Grenze entfernt. Und das erklärt letztendlich auch die starke kulturelle und wirtschaftliche Verbundenheit der Schweiz mit der Europäischen Union.

Es gibt das so genannte Gravitationsmodell des Aussenhandels. Es versucht, das Handelsvolumen zwischen zwei Staaten analog den Gravitationskräften, d.h. der gegenseitigen Anziehungskraft, von Planeten zu erklären. Anstelle der Masse der Planeten, die sich gegenseitig anziehen, tritt das Bruttoinlandprodukt. Analysen haben gezeigt, dass dieses Modell einen sehr hohen Erklärungsgehalt hat. Je kürzer die geografische Distanz zwischen zwei Ländern, und je höher ihr Bruttoinlandprodukt, desto umfangreicher sind die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern. Das bedeutet, dass die Schweiz noch so viele Freihandelsabkommen mit noch so vielen weiter entfernten Staaten abschliessen kann, der Aussenhandel mit der EU wird aufgrund der Nähe und der Grösse des Europäischen Binnenmarkts immer dominant sein.

Es erstaunt deshalb nicht, dass der Handel mit der Europäischen Union mit Abstand den grössten Anteil am Aussenhandel der Schweiz aufweist. Beim Export sind es 47 Prozent, wovon die Exporte nach Deutschland allein einen Drittel davon ausmachen, d.h. 15 Prozent. Der Anteil der Exporte in die USA beträgt hingegen lediglich 17 Prozent, nach China nur 9 Prozent. Bei den Importen beträgt der Anteil der EU-Staaten rund 50 Prozent. Die Importe aus Deutschland alleine haben einen Anteil von rund 20 Prozent an den gesamten Importen in die Schweiz.

Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass die Schweiz gemäss Studien zu den Hauptnutzniesserinnen des europäischen Binnenmarkts gehört, obwohl sie nur teilweise in diesen Binnenmarkt integriert ist. Oder betrachten wir den Bereich Sicherheit und Verteidigung. Die Schweiz ist wahrscheinlich das am besten geschützte Land in Europa. Die hohe Sicherheit ist unter anderem dem Schengen-Raum und der NATO zu verdanken. Die Schweiz ist Teil des Schengen-Raums nicht jedoch Teil der NATO. Wir können auch den kulturellen Hintergrund und gesellschaftliche Normen betrachten, oder die Demokratie, die Menschenrechte, der Rechtsstaat und die soziale Marktwirtschaft. Wir teilen diese Werte zusammen mit unseren europäischen Nachbarstaaten. Die Schweiz ist unweigerlich ein Teil des kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Raums Europas.

Demgegenüber steht die politische Realität. Die Schweiz ist – seit dem Brexit zusammen mit Grossbritannien – das einzige westeuropäische Land, welches nicht Teil des Europäischen Wirtschaftsraums EWR ist. Sämtliche ehemalige Staaten des Warschauer Paktes, also die ehemaligen osteuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion, sind heute Teil der EU.

Und mit den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen gehören sogar drei ehemalige Sowjetrepubliken der EU an. Durch ihre Mitgliedschaft im EWR sind auch die EFTA-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein vollständig in den Binnenmarkt integriert. Das heisst die vier Freiheiten des EU-Binnenmarkts, der freie Personen-, Kapital-, Waren- und Dienstleistungsverkehr, gelten vom Nordkap bis nach Sizilien, von Portugal bis nach Rumänien, von Griechenland bis nach Island.

Mittendrinn klafft aber eine Lücke: und das ist die Schweiz. Sie hat lediglich sektoriellen Zugang zum Binnenmarkt, über die bilateralen Verträge. Das heisst die vier Freiheiten gelten nicht alle oder nur eingeschränkt. Hinzu kommt, dass die Schweiz bei sehr wichtigen Weiterentwicklungen des Binnenmarkts immer stärker abgehängt wird. Sie hat keine Mitwirkungsrechte, wird aber irgendwann zahlreiche Bestimmungen dennoch übernehmen, sei es aus praktischen Gründen oder im Rahmen der bilateralen Verträge.

Beispiel Klimaschutz: Gerade vor zwei Tagen hat das EU-Parlament eine Ausweitung des CO2-Emissionshandelssystems und die Einführung eines daran gekoppelten Grenzausgleichssystems beschlossen. Das Schweizer Emissionshandelssystem ist mit jenem der EU verknüpft. Es ist deshalb im Interesse der Schweizer Unternehmen, sowohl die Weiterentwicklung des Emissionshandels als auch das Grenzausgleichssystem zu übernehmen. Ansonsten drohen Schweizer Unternehmen Wettbewerbsnachteile gegenüber Konkurrentinnen aus Drittländern.

Weitere Beispiele sind der Digital Market Act und der Digital Service Act, zwei Regelwerke zur Regulierung von grossen Internetplattformen. Es ist aufgrund der geografischen Lage und der wirtschaftlichen und kulturellen Verknüpfung mit der EU kaum denkbar und sinnvoll, dass die Schweiz ausschert. Zu nennen wäre auch die Lieferkettenrichtlinie im Bereich der Unternehmensverantwortung, welche in etwa den Inhalten der Konzernverantwortungsinitiative entspricht. Oder der immer stärker ausgebaute Energiebinnenmarkt, der unter anderem die Stromversorgung der EU-Staaten sicherstellen soll, unter anderem mit Vorschriften für die gegenseitige Bereitstellung von Reservekapazitäten. Die Schweiz kann aufgrund eines fehlenden Stromabkommens mit der EU nicht daran teilnehmen, was die Netzstabilität beeinträchtigen kann.

Der Grund das Abseitsstehen ist der bilaterale Weg, der nach dem fatalen Nein der Stimmbevölkerung zum Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum im Jahr 1992 von der Schweiz eingeschlagen wurde. Von vielen wurde der bilaterale Weg in der Vergangenheit als der Königsweg für die Schweiz bezeichnet. Heute führt er die Schweiz immer weiter in eine Sackgasse. Der europäische Binnenmarkt entwickelt sich rasant weiter, insbesondere auch aufgrund neuer Herausforderungen. Die bilateralen Verträge vermögen jedoch nicht mit diesen Weiterentwicklungen schrittzuhalten.

Hinzu kommt, dass die EU bei den bilateralen Abkommen eine dynamische Rechtsübernahme fordert, damit im ganzen Binnenmarkt das gleiche Recht gilt. Das ist nachvollziehbar. Kein Land möchte in einem Binnenmarkt mit Mitgliedern zu tun haben, die sich überall Sonderrechte herausnehmen. Gerade das scheint jedoch seit Jahren die Politik des Bundesrats und der Bundesratsparteien zu sein. Ohne institutionellen Rahmen für die dynamische Rechtsübernahme und die Streitbeilegung will deshalb die EU die bestehenden bilateralen Abkommen nicht mehr aktualisieren und keine neuen Abkommen abschliessen.

Der Bundesrat hat jedoch im 2021 die Verhandlungen zu einem institutionellen Rahmenabkommen leichtsinnig und verantwortungslos sowie entgegen dem Wunsch der Kantone und der aussenpolitischen Kommissionen des National- und Ständerats einseitig abgebrochen. Seither verweigert die EU der Schweiz auch die Assoziierung an ihre Kooperationsprogramme wie z.B. Horizon und Erasmus. Viele kritisieren diese Haltung der EU. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es um den Binnenmarkt der EU und um die Kooperationsabkommen der EU geht. Es gibt kein Recht der Schweiz auf Teilnahme am Binnenmarkt und an den Kooperationsabkommen. Solange keine vertraglichen Regeln bestehen, liegt es allein in der Entscheidungsmacht der EU, den Marktzugang über bilaterale Verträge und die Teilnahme an den Kooperationsprogrammen zu gewähren.

Der Bundesrat sondiert zwar seit mehr als einem Jahr mit einem so genannten Paketansatz. Er möchte eine Einigung bei den institutionellen Fragen mit dem Abschluss von weiteren sektoriellen Marktzugangsabkommen verknüpfen. Die institutionellen Regeln für die Rechtsübernahme und die Streitbeilegung sollen nicht in einem Rahmenvertrag, sondern in den einzelnen Abkommen verankert sein.

Aber diese Sondierungsgespräche scheinen nicht vom Fleck zu kommen. Ausserdem sind sie von Seiten der Schweiz von einem kleinkrämerischen Geist umwoben. Die Schweiz will die Binnenmarktintegration nur dort, wo es in ihrem Interesse ist. Das ist pures Rosinenpicken. Zudem hat der Bundesrat offensichtlich keine europapolitische Vision. Er befindet sich europapolitisch konstant in der Defensive. Nach über eineinhalb Jahren europapolitischem Stillstand ist festzustellen, dass der Bundesrat und die Mehrheit des Parlaments die Schweiz zunehmend in die Isolation führen.

Wir brauchen deshalb einen europapolitischen Aufbruch! Die EU wird hierzulande allzu oft als eine bedrohliche, bürokratische Institution wahrgenommen, gegen welche sich die Schweiz verteidigen muss. Auch der Bundesrat und die mit den Sondierungen beauftragte Staatssekretärin im Aussendepartement EDA, Livia Leu, vermitteln stets den Eindruck, dass sie in der Defensive sind. Wir müssen jedoch genau das Gegenteil tun: wir müssen in die Offensive gehen.

Wir müssen ein positives Bild der EU pflegen und aktiv eine möglichst weitgehende Integration in die EU anstreben. Die EU ist, trotz all ihrer Mängel und Rückschritte ein grossartiges Projekt für Europa. Ihr ist es im Wesentlichen zu verdanken, dass fast alle europäischen Staaten Demokratien sind, mit denen wir fundamentale Grundwerte teilen. Ich wage mir nicht vorzustellen, wie Europa heute aussehen würde, wenn es die EU nicht gäbe.

Mehr Integration in die EU heisst auch mehr Mitwirkung und Mitbestimmung. Die Schweiz soll und muss einen deutlich stärkeren Beitrag zur europäischen Integration und Solidarität leisten. Nur eine stärkere Integration und Mitwirkung ist eines selbstbewussten Staates würdig, ja letztendlich notwendig, damit die Schweiz ihre Souveränität bewahren kann.

Es gibt letztendlich für die Schweiz vier Wege, auf denen sie weiterschreiten kann. Der erste Weg ist der Beitritt zur EU. Die Schweiz wäre ein gleichberechtigtes Vollmitglied mit sämtlichen Rechten und Pflichten. Es wäre auch derjenige Weg, der der Schweiz am meisten Souveränität bringen würde. Denn sie könnte in allen europapolitischen Angelegenheiten mitentscheiden. Und die Schweiz stünde bei vielen politischen Herausforderungen unserer Zeit nicht weiter alleine da, insbesondere auch gegenüber China oder den USA.

Der zweite Weg ist der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR, wie die anderen EFTA-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein. Der EWR bedeutet die vollständige Integration in den europäischen Binnenmarkt mit den vier Freiheiten, ohne jedoch EU-Mitglied zu sein. Er ermöglicht auch den Zugang zu den Kooperationsabkommen wie Horizon, Erasmus und Creative Europe. Im Gegensatz zu einer EU-Mitgliedschaft umfasst die EWR-Mitgliedschaft bei der Weiterentwicklung des Binnenmarktrechts nur Mitwirkungs- aber keine Entscheidungskompetenzen.

Der dritte Weg ist der bilaterale Weg mit einem institutionellen Rahmen. Es ist der Weg, den der Bundesrat anstrebt. Er umfasst weiterhin einen lediglich sektoriellen Zugang zum Binnenmarkt, aber mit dynamischer Rechtsübernahme und Streitbeilegungsmechanismus. Die dynamische Rechtsübernahme umfasst aber auch hier lediglich Mitwirkungs- und keine Entscheidungsrechte bei der Weiterentwicklung des relevanten Binnenmarktrechts. Dieser Weg mag zur Zeit zwar attraktiv erscheinen, ist jedoch instabil. Denn die Teilnahme am Binnenmarkt in weiteren Sektoren sowie auch die Mitwirkung bei den Kooperationsprogrammen ist nicht garantiert.

Der vierte Weg wäre die Kündigung der bilateralen Marktzugangsabkommen und die Beschränkung auf ein modernisiertes Freihandelsabkommen ähnlich dem Brexit. Es wäre ein klarer Rückschritt gegenüber dem bilateralen Weg. Es würden neue Handelshemmnisse entstehen, da die bisherige sektorielle Integration in den Binnenmarkt wegfällt. Faktisch wäre jedoch das Schweizer Recht weiterhin stark von den Binnenmarktregeln der EU beeinflusst, da Regulierungsunterschiede in vielen Bereichen weder zweckmässig noch erstrebenswert sind.

Nicht mehr in der Auswahl ist der bilaterale Weg ohne dynamische Rechtübernahme und Streitbeilegungsmechanismus, so wie wir ihn bisher gekannt haben. Die EU ist nicht mehr bereit, diesen Weg weiterzugehen, weshalb er auch für die Schweiz keine Option mehr ist.

Unter den vier beschriebenen Lösungswegen sind lediglich der EU- und der EWR-Beitritt letztendlich stabile und auch von der EU akzeptierte, erfolgreiche Integrationsmodelle in den Binnenmarkt. Für die Grünliberalen ist der Beitritt zum EWR der bevorzugte Weg; persönlich würde ich auch einen EU-Beitritt befürworten. Denn er ist der Weg, der für einen selbstbewussten, demokratischen und liberalen Staat mitten in Europa am angemessensten ist. Denn machen wir uns nichts vor: mehr als die Hälfte unseres Rechts ist quasi europäisches Recht. Von Souveränität im klassischen Sinne fehlt heute jede Spur. Der Beitritt zur EU dürfte allerdings momentan gemäss Umfragen in der Schweizer Bevölkerung nicht mehrheitsfähig sein.

Die europäische Integration darf sich jedoch nicht einfach nur auf die Wirtschaft beschränken. Vor dem Hintergrund der geopolitischen Lage ist insbesondere eine mögliche vertiefte Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheit stärker ins Bewusstsein gerückt, namentlich mit der NATO und der EU.

Die Schweiz teilt mit der EU grundlegende Werte wie Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Wir müssen für sie einstehen und für sie kämpfen, nicht alleine, sondern gemeinsam mit unseren Nachbarn.

Denn die Schweiz gehört zu Europa, ohne wenn und aber!

 

Key Note an der Veranstaltung «Die Schweiz und Europa - Quo Vadis?» der GLP Zug, 20.04.2023