Irrtum Staatsschulden: Weshalb wir unseren Nachkommen keine Schuldenberge hinterlassen
Staatsschulden unterscheiden sich von privaten Schulden darin, dass wir sie uns selbst schulden. Egal wie hoch die Staatschulden sind, das Vermögen der Schweizer Volkswirtschaft verändert sich nicht, solange die Staatsschulden im Inland gehalten werden. Wichtiger für die Beurteilung der Verschuldung eines Landes ist das Nettoauslandsvermögen. Diesbezüglich ist die Schweiz in einer hervorragenden Position.
„Wir wollen den zukünftigen Generationen keine Schuldenberge hinterlassen“. Dieser Leitsatz findet sich in zahlreichen finanzpolitischen Reden, Programmen und Positionspapieren. Er soll die Forderung nach einer Finanzpolitik des Staates zum Ausdruck bringen, welche Einnahmen und Ausgaben stets im Gleichgewicht behält und Staatsschulden wenn immer möglich vermeidet und abbaut. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Schuldenbremse des Bundes. Sie fordert die vollständige Eigenfinanzierung sämtlicher Ausgaben, auch von Investitionen. Damit soll sichergestellt werden, dass zukünftige Generationen dereinst nicht mit hohen Staatschulden konfrontiert sind, die sie wieder abbauen und für welche sie hohe Zinsen errichten müssen.
Doch was auf den ersten Blick nachvollziehbar und erstrebenswert erscheint, erweist sich bei genauer Betrachtung als Irrtum. Dieser besteht darin, dass die Eigenschaften von Staatsschulden jenen von privaten Schulden gleichgesetzt werden. Bei privaten Schulden stehen der Schuldnerin üblicherweise Drittpersonen als Gläubigerinnen gegenüber, zum Beispiel bei einer Hypothek eine Bank oder die Anleger auf den Finanzmärkten (z.B. bei einer Obligation). Die Schulden der Einen sind die Vermögen der Anderen. Der Staat hingegen, in der Schweiz gemäss Bundesverfassung „das Schweizervolk und die Kantone“, verschuldet sich gegenüber sich selbst. Die Staatsschulden der Schweiz, z.B. Bundesobligationen oder Bankkredite an Kantone und Gemeinden, werden direkt oder indirekt den Einwohner:innen der Schweiz geschuldet, jenen also, die selbst den Staat ausmachen. Die Schulden des Bundes, der Kantone und Gemeinden sind gleichzeitig das Vermögen von uns Einwohner:innen. Wir halten in unseren Wertschriftendepots oder indirekt via Pensionskassenvermögen und Sparkonti Bundesobligationen und Kredite an Kantone und Gemeinden. Halte ich z.B. eine Bundesobligation in meinem Wertschriftendepot, dann stelle ich dem Bund, dessen Teil ich selbst bin, mein Vermögen für die Erfüllung von Staatsaufgaben zur Verfügung. Staatsschulden betreffen stets die gesamte Volkswirtschaft, sowohl was die Schuldnerin als auch was die Gläubigerin betrifft. Das gilt auch für die Zinszahlungen. Denn der Zinsausgaben des Staates sind die Vermögenserträge von uns Sparer:innen. Egal wie hoch die Staatsschulden der Schweiz sind, unser Vermögen verändert sich grundsätzlich nicht, solange die Staatsschulden in der Schweiz gehalten werden.
Ein Nullsummenspiel also? Nicht ganz. Denn Staatsschulden können den Wohlstand einer Volkswirtschaft durchaus erhöhen oder reduzieren. Beginnen wir mit den erhöhenden Auswirkungen: Staatsschulden können für zusätzliche Investitionen verwendet werden, die von Privaten nicht oder nicht in genügender Menge bereitgestellt würden, welche jedoch für die Einwohner:innen gleichwohl einen zusätzlichen zukünftigen Nutzen generieren. Dabei handelt es sich um klassische öffentliche Güter und Dienstleistungen, z.B. Investitionen in die Verkehrs- und Energieinfrastruktur, das Gesundheitswesen, Bildung und Forschung, die öffentliche Sicherheit und den Klimaschutz. Sie sind wesentliche Grundlagen für den Wohlstand und das Wachstum einer Volkswirtschaft und führen somit längerfristig zu höherem Wohlstand. Zudem handelt es sich bei den Staatsanleihen in der Regel um die sichersten Anlagen in einer Volkswirtschaft. Oft spricht man bei Staatsanleihen auch von risikolosen Anlagen und dem risikolosen Zinssatz, weil kein oder nur ein geringes Ausfallrisiko besteht und sie nur geringen Renditeschwankungen unterliegen. Staatsanleihen spielen deshalb eine zentrale Rolle für die Finanzmärkte einer Volkswirtschaft, sei es zum Beispiel als Teil eines ausgewogenen Anlageportfolios für Pensionskassen, oder als Grundlage für Referenzzinssätze für private Anlagen und Kredite unterschiedlicher Laufzeit.
Wohlstandsvermindernd können Staatsdefizite und somit neue Staatsschulden dann sein, wenn sie gegenüber von Gläubigern im Ausland geschuldet sind, vor allem wenn die Volkswirtschaft gleichzeitig ein Leistungsbilanzdefizit aufweist. Die Leistungsbilanz beschreibt den Saldo von Erträgen und Aufwänden im Ausland, z.B. aus dem internationalen Handel (Exporte und Importe), aus Zinszahlungen von Auslandinvestitionen oder Lohnzahlungen ins oder aus dem Ausland. Eine nicht ausgeglichene Leistungsbilanz eines Landes muss gegenfinanziert werden. Eine positive Leistungsbilanz bedeutet, dass eine Volkswirtschaft insgesamt mehr Wertschöpfung erwirtschaftet, als dass sie selbst konsumiert und investiert. Der Überschuss wird im Ausland investiert, z.B. durch Direktinvestitionen in Produktionsanlagen, den Kauf von Wertpapieren im Ausland oder in der Form von Devisenreserven der Zentralbank. Die Volkswirtschaft häuft damit Auslandvermögen an. Weist eine Volkswirtschaft über einen längeren Zeitraum Leistungsbilanzüberschüsse auf, so resultiert ein wachsendes Nettoauslandsvermögen. Eine negative Leistungsbilanz bedeutet hingegen, dass sich die Volkswirtschaft gegenüber anderen Ländern verschuldet. Sie konsumiert und investiert mehr, als dass sie selbst Wertschöpfung erwirtschaftet. Zur Finanzierung ist sie auf Investitionen aus dem Ausland angewiesen. Weist eine Volkswirtschaft über einen längeren Zeitraum Leistungsbilanzdefizite auf, so resultiert eine wachsende Nettoauslandsverschuldung.
Als Zwischenfazit können wir festhalten: Schuldenberge werden in einer Volkswirtschaft nicht durch die Budgetdefizite des Staates angehäuft, sondern durch Leistungsbilanzdefizite. Solange eine Volkswirtschaft eine ausgeglichene oder sogar positive Leistungsbilanz aufweist, können die Staatsschulden problemlos steigen. Ein bekanntes Beispiel ist Japan: Die Staatschulden Japans sind aufgrund von anhaltenden Budgetdefiziten mittlerweile auf über 250 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) gestiegen. Davon werden jedoch nur etwa 12 Prozent gegenüber dem Ausland geschuldet. Der weitaus grösste Teil wird von inländischen Anleger:innen gehalten. Die japanische Staatsschuld ist somit weitgehend ein Teil des Vermögens der Einwohner:innen Japans selbst. Zudem weist Japan seit über 20 Jahren einen Leistungsbilanzüberschuss auf, so dass das Nettoauslandsvermögen mittlerweile auf rund 80 Prozent des BIP angewachsen ist (vgl. Abbildung 1). Die Japaner:innen sparen mehr als dass sie im Inland investieren. Als Volkswirtschaft hinterlassen sie somit trotz hohen Staatsschulden ihren Nachkommen keine Schuldenberge. Im Gegenteil, sie vererben ihnen ein hohes Auslandvermögen und damit eine wertvolle Ertragsquelle. Ausserdem schränkt die hohe Schuldenquote die Handlungsfähigkeit des Staates in keiner Art und Weise ein. Japan kann auf dem Kapitalmarkt problemlos seine Staatsschulden refinanzieren oder neue Kredite aufnehmen.
Abbildung 1: Leistungsbilanz, Nettoauslandsvermögen und Staatsfinanzen Japan
Datenquelle: Internationaler Währungsfonds (IWF)
Aber selbst Leistungsbilanzdefizite sind grundsätzlich keine Gefahr für eine Volkswirtschaft, solange das Ausland bereit ist, sie zu finanzieren. Gerade Entwicklungs- und Schwellenländer sind auf ausländisches Kapital angewiesen, um mit Investitionen die Produktivität und somit den Wohlstand zu steigern. Auch führen der internationale Handel und offene Kapitalmärkte natürlicherweise zu Leistungsbilanzüberschüssen und -defiziten, da in offenen Volkswirtschaften Güter und Dienstleistungen dort produziert werden, wo relative Kostenvorteile bestehen. Da anhaltende Leistungsbilanzdefizite auf das Vertrauen der ausländischen Investoren in die Volkswirtschaft angewiesen sind, können sie jedoch ein latentes Risiko für eine Volkswirtschaft darstellen. Sind die Anleger:innen nicht mehr oder nur zu sehr hohen Zinssätzen bereit, weiter in die Volkswirtschaft zu investieren, kann ein Leistungsbilanzdefizit rasch zu einer Finanz- und Wirtschaftskrise führen, welche sogar in einen Staatsbankrott münden kann. Diese Risiken bestehen vor allem für kleine offene Volkswirtschaften, in denen der internationale Handel einen grossen Anteil an der Wirtschaftsleistung hat, und in denen ein grosser Teil der Staatsschuld im Ausland gehalten wird.
Ein prominentes Beispiel in der jüngeren Geschichte ist Griechenland. Die Einführung des Euro führte bei vielen Anleger:innen zu der Annahme, dass mit einer einheitlichen Währung bei grenzüberschreitenden Investitionen in Europa die Risiken kleiner würden. Infolgedessen verringerten sich die Zinsdifferenzen zwischen den Ländern des Euro-Währungsgebiets. Die damals hohen Zinsen peripherer Länder Europas wie z.B. Griechenland und Portugal näherten sich den tiefen Zinsen Deutschlands an. Daher kam es nach der Einführung des Euro zu einer massiven Kapitalbewegung vom Kern der Eurozone - hauptsächlich aus Deutschland - in periphere Staaten, beispielsweise nach Griechenland, Portugal und Spanien. Dies führte in diesen Ländern zu einem starken wirtschaftlichen Aufschwung.
Abbildung 2: Leistungsbilanz, Nettoauslandsvermögen und Staatsfinanzen Griechenland
Datenquelle: Internationaler Währungsfonds (IWF)
Trotz Aufschwung stiegen jedoch die Staatsdefizite Griechenlands bis 2009 munter an, und auch der Leistungsbilanzsaldo rutschte immer stärker ins Minus (vgl. Abbildung 2). Dank dem hohen BIP-Wachstum konnte immerhin die Schuldenquote stabil gehalten werden. Hingegen wurde die Nettoauslandverschuldung immer grösser, wobei auch rund 70 Prozent der griechischen Staatsschulden im Ausland gehalten wurden. Alles lief gut, solange noch Kapital in das Land floss. Anfang 2010 gab die neue griechische Regierung jedoch bekannt, dass das Haushaltsdefizit für 2009 weitaus höher war als bisher angenommen. Dies führte auf den Finanzmärkten zu Zweifeln hinsichtlich der Nachhaltigkeit des Aufschwungs und der Staatsfinanzen. Die Märkte reagierten, indem sie deutlich höhere Renditen für griechische Schulden verlangten, was den Kapitalzufluss rasch verringerte. Griechenland konnte seine wachsenden Staatsschulden nicht mehr refinanzieren und musste schliesslich von der EU dem Internationalen Währungsfonds finanziell unterstützt werden. Dank einschneidenden Sparmassnahmen haben sich die Staatsdefizite seither verringert. Nach wie vor weist jedoch Griechenland eine hohe Nettoauslandverschuldung auf, und der grösste Teil der Staatsschulden werden weiterhin im Ausland gehalten. Auch der Leistungsbilanzsaldo ist weiterhin negativ, die Inland-Investitionen sind nach wie vor höher als das Sparen. Zwar ist die Schuldenquote Griechenlands heute tiefer als jene Japans. Im Gegensatz zu Japan weist Griechenland aber eine Nettoauslandsverschuldung auf, und damit ein höheres Risiko für zukünftige Instabilität und Wohlstandseinbussen.
Und die Schweiz? Unser Land befindet sich in der glücklichen Lage, in den letzten 20 Jahren stets eine positive Leistungsbilanz erwirtschaftet zu haben, weshalb die Schweiz ein hohes Netto-Auslandsvermögen aufweist. Zudem zeigt die Schuldenquote aufgrund eines weitgehend ausgeglichenen Staatshaushalts einen sinkenden Trend. Nur knapp 10 Prozent der Schweizer Staatsschulden werden im Ausland gehalten. Die Schweiz spart mehr, als dass sie im Inland investiert. Selbst wenn die Staatsschulden ansteigen würden, hinterlassen wir Schweizer:innen deshalb unseren Nachkommen keine Schuldenberge. Im Gegenteil, ähnlich wie Japan vererben wir ihnen ein hohes Nettoauslandsvermögen und damit eine wertvolle Ertragsquelle.
Abbildung 3: Leistungsbilanz, Nettoauslandsvermögen und Staatsfinanzen Schweiz
Datenquelle: Internationaler Währungsfonds (IWF)
Welche Schlüsse sind daraus für die Finanzpolitik zu ziehen? Beim Bund ist eine Überprüfung des Regelwerks der Schuldenbremse überfällig. Das Festhalten an der heute hyperrestriktiven Auslegung der Schuldenbremse ist vor dem Hintergrund der hohen Leistungsbilanzüberschüsse und des hohen Nettoauslandsvermögen der Schweiz weder notwendig noch zweckmässig. So wäre es finanzpolitisch sinnvoller, gemäss der goldenen Regel staatliche Neuinvestitionen mit Schulden zu finanzieren, statt mit laufenden Steuereinnahmen. Investitionen in die Infrastruktur, den Klimaschutz oder die Verteidigung spenden auch künftigen Generationen Nutzen. Auf der anderen Seite ist die in der Politik oft geäusserte Warnung, dass die Schweiz unbedingt in „guten Zeiten“ die Schulden reduzieren müsse, damit sie in einer nächsten Krise wieder genügend finanziellen Handlungsspielraum habe, vor dem Hintergrund der volkswirtschaftlichen Lage der Schweiz eine Fehleinschätzung. Selbst eine im Vergleich zu heute deutlich höhere Schuldenquote würde die Handlungsfähigkeit der Schweiz in keiner Art und Weise einschränken. Sie könnte auf dem Kapitalmarkt weiterhin ihre Staatsschulden problemlos refinanzieren oder neue Kredite aufnehmen. Es wäre doch fatal, wenn uns unsere Nachkommen dereinst vorwerfen müssten, aufgrund eines Irrtums zu wenig in den Klimaschutz, die Artenvielfalt, die Bildung und Forschung oder die Sicherheit investiert zu haben.